SUSANNE DONNER | DÜSSELDORF
Im Kampf gegen Krebs setzen Forscher auf Stammzellen und ein Protein, das Geschwüre absterben lässt
Das Ergebnis ihres Experiments versetzte Krebsforscherin Ingrid Herr in helle Aufregung: In einer Apparatur, die einer Sanduhr ähnelt, saßen im oberen Glasbehälter Stammzellen aus dem Knochenmark, im unteren Krebszellen der Bauchspeicheldrüse, beide getrennt durch eine Membran. Eigentlich dürfte sich nichts rühren. Die Stammzellen sind zu leicht, als dass sie, einfach der Schwerkraft folgend, nach unten rutschen könnten. Aber schon nach wenigen Minuten sah Herr, wie die Stammzellen zu den bösartigen Zellen hinunterwanderten. Mehr und mehr drangen in den Tumor ein.
„Möglicherweise werden die Zellen von bestimmten Stoffen aus dem Krebs angelockt“, spekuliert die Wissenschaftlerin von der Universitätsklinik Heidelberg über ihre Beobachtung. „Aber im Grunde wissen wir nicht, was die Wanderung auslöst.“ Die ungewöhnliche Entdeckung eröffnete für die Wissenschaftlerin einen möglichen neuen Therapieweg gegen Krebs.
Gewöhnlich werden Stammzellen aus dem Knochenmark bei einer Verletzung mobilisiert. Sie wandern zur Wunde und ersetzen als Retter in der Not das zerstörte Gewebe. „Ist der Tumor vielleicht so etwas wie eine nie heilende Wunde?“ überlegt Herr. Eine Frage, die noch niemand beantworten kann.
Die magische Anziehungskraft zwischen Krebs und Stammzellen beobachtete Herr nicht nur im Reagenzglas, sondern auch in krebskranken Mäusen. Als sie den Tieren farbig markierte Stammzellen ins Blut spritzte, sammelten sich diese im Geschwür, wie die Heidelbergerin im vergangenen Jahr auf dem 39. Kongress des Europäischen Pankreas-Klubs in Newcastle berichtete. Auf der Tagung wurde sie mit dem ersten Preis für die beste wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet, weil auch ihre Kollegen das Potenzial ihrer Entdeckung erkannten.
„Die Stammzellen könnten als Vehikel für Medikamente dienen“, schildert Herr ihre Idee. Eigenständig pilgern die Knochenmarkszellen in den Tumor, um an Ort und Stelle zum Beispiel ein Arzneimittel freizusetzen. Oder einen Stoff, der als das nächste große Ding in der Krebsforschung gehandelt wird: ein Protein mit Namen „Trail“, ein körpereigenes Eiweiß, das die Immunabwehr selbst schon gegen Krebszellen einsetzt. Die Abkürzung „Trail“ steht für einen unaussprechlichen Namen: „Tumornekrosefaktor zugehöriger, Apoptose induzierender Ligand“. Der Name erklärt, was Trail mit Krebszellen macht: Es treibt sie gezielt in den Selbstmord, indem es ein Selbstzerstörungsprogramm auslöst, sobald es an die Zellen andockt.
Weil die Stammzellen des Knochenmarks selbst nur geringe Mengen an Trail bilden, pflanzt Herr das zugehörige Trail-Gen in das Erbgut der Stammzellen ein. Die manipulierten Zellen produzieren dann das Killerprotein und tragen es auf ihrer Oberfläche. „Diese Zellen würden wir den Patienten intravenös zurückgeben. Da die Stammzellen gezielt den Tumor aufsuchen, sollten sie diesen und auch etwaige Metastasen finden und zerstören“, schildert Herr ihre Vision einer Therapie.
Nun testen sie und ihre Gruppe die Methode an Mäusen und Ratten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs. „Bei herkömmlichen Behandlungen bleiben oft bösartige Zellen übrig. Dadurch kommt es später zu einem Rückfall oder gar zu Metastasen. Die Trail-produzierenden Stammzellen könnten Krebs dauerhaft bekämpfen und restlos beseitigen“, hofft die Forscherin. Gleichwohl räumt sie ein, dass die Idee noch in den Kinderschuhen steckt und ihre Zukunft äußerst ungewiss ist. Niemand weiß, was die Stammzellen in bösartiger Gesellschaft anrichten, und es gibt Hinweise, dass sie zur Gewebemasse des Krebses beitragen und vermutlich sogar dabei helfen, dass Blutgefäße sprießen, über die sich der Tumor versorgt.
Ingrid Herr konstatiert freimütig: „Wenn das tatsächlich der Fall ist, würde die Therapie mit den Stammzellen nach hinten losgehen.“ Dann wäre es notwendig, die Zellen nach erfolgreicher Behandlung zu entfernen, etwa indem man sie dazu bringt, sich selbst zu zerstören. Sie wären sozusagen Selbstmordattentäter im Tumor. Oder Medikamente wie Ganciclovir könnten die Stammzellen beseitigen.
Michael Krainer, Krebsforscher von der Medizinischen Universität in Wien, würdigt die Idee, das Todesprotein zu verwenden: „Trail ist einer der vielversprechendsten neuen Ansätze gegen Tumoren.“
Den Stammzellen als Vehikel steht er allerdings kritisch gegenüber: „Trail-Fabriken in Form genmanipulierter Stammzellen sind schwer steuerbar. Das ist ihr Nachteil. Einmal in Gang gekommen, stoppt man sie nicht mehr so schnell“, sagt Krainer. Es sei deshalb besser, wenn man den Patienten nur das Protein Trail gibt und keine kleine Zell-Fabrik.
Mehrere Pharmafirmen arbeiten bereits an Trail-Therapien ohne Stammzellen als Vehikel: Die amerikanischen Unternehmen Genentech und Amgen testen den Wirkstoff gemeinsam an Patienten. Ergebnisse liegen bisher aber noch nicht vor.
Für noch vielversprechender hält Krebsforscher Krainer Trail-Antikörper. Diese besetzen die Andockstellen für Trail auf der Krebszelle und imitieren damit dessen Wirkung, Krebszellen in den Selbstmord zu treiben. Die Biotech-Firma Human Genom Sciences testet zwei dieser Antikörper in klinischen Studien gegen Lungenkrebs.
Einer der beiden soll in diesem Jahr zusammen mit Chemotherapeutika an Patienten erprobt werden, wie das Unternehmen im Dezember meldete. Vorausgegangen waren nach Angaben der Firma erfolgversprechende Tests an 32 Patienten mit nicht mehr behandelbarem Lungenkrebs: Bei neun von ihnen konnte der Antikörper das Krebswachstum stoppen.
Gravierende Nebenwirkungen traten nicht auf, so Human Genom Sciences. Allerdings veränderten sich die Leberwerte bei einigen Patienten. „So etwas muss man im Auge behalten“, sagt Christian Beltinger, Onkologe und Kinderarzt an der Universitätskinderklinik in Tübingen. „Andererseits ist es nicht ungewöhnlich, dass Krebsmedikamente die Leber beeinträchtigen.“
Auch wenn die Forschung mit Trail erst am Anfang steht, viele Wissenschaftler sind zuversichtlich, dass es eines Tages eine Therapie mit dem Todesprotein geben wird: „Das Faszinierende an Trail ist, dass dieses Protein Therapien eröffnet, von denen alle Tumorpatienten profitieren sollten und nicht nur eine spezifische Gruppe“, sagt Krainer.
Denn jede Krebsart wird vom körpereigenen Immunsystem auf natürliche Weise mit Trail bekämpft – allerdings mit mehr oder weniger Erfolg. Michael Krainer etwa untersuchte Frauen mit Eierstockkrebs. In der Umgebung der Krebszellen produzieren gesunde Zellen das Todesprotein, um das Geschwulst zurückzudrängen. Die Patientinnen überlebten umso länger, je mehr Trail zugegen war, wie Krainer herausfand.
Jedoch konnte das Protein bei etwa siebzig Prozent der Frauen die Krebszellen nicht erfolgreich bezwingen, weil es in seiner Wirkung blockiert wurde oder sich nicht an die Krebszellen anheftete.
Diese Resistenz der Krebszellen ist in Krainers Augen ein grundlegender Mechanismus, mit dem sie der Immunabwehr entkommen. „Viele Tumorzellen sind widerstandsfähig gegenüber Trail. Deshalb hat sich die anfängliche Euphorie um das Todesprotein etwas gelegt“, sagt Ingrid Herr.
Der Ausweg wird eine Kombination verschiedener Therapien sein: Eine Strahlen- oder Chemotherapie schwächt die Widerstandskraft des Tumors, so dass das Todesprotein doch zum Zug kommt. Krebszellen, die mit den klassischen Methoden allein nicht starben, gingen in den Wiener und Heidelberger Labors ein, wenn Trail zur Hilfe kam. Und Trail bietet den entscheidenden Vorteil, sagt Christian Beltinger: „Alle Krebstherapien, die wir heute haben, sind wirksam, aber dreckig, weil sie immer auch gesunde Zellen zerstören. Trail aber wirkt zielgerichtet und verschont gesunde Zellen.“