von Robert Buchacher
Prostatakrebs:
Diagnose-Dilemma rund um den häufigsten Tumor des Mannes
Das Prostatakarzinom ist der häufigste Tumor des Mannes. Durch Früherkennung geht die Zahl der Todesfälle allmählich zurück, wie das Beispiel Tirol zeigt. Aber nach wie vor werden viel zu viele Patienten operiert, weil niemand vorhersagen kann, ob ein Tumor lebensbedrohend ist oder nicht.
Der pensionierte Lokführer Artur Girardi, 69, aus Innsbruck war zeitlebens ein sportlicher Typ. Als Wanderführer und Skilehrer hielt er sich sommers wie winters in den Bergen auf und fühlte sich derart gesund, dass er jedes Ansinnen seiner Ehefrau, er möge doch einmal zur Gesundenuntersuchung gehen, brüsk zurückwies. Dann ging er doch. Sein PSA-Wert, der die Menge des Prostata-spezifischen Antigens im Blut misst, war deutlich erhöht. Ein befreundeter US-Skilehrer riet ihm, den Prostatakrebs-Spezialisten Patrick Walsh in Baltimore aufzusuchen, denn dieser operiere potenzerhaltend. Aber einen solchen Eingriff in den USA konnte sich Girardi nicht leisten, daher wandte er sich an den Vorstand der Innsbrucker Universitätsklinik für Urologie, Georg Bartsch.
Diesem erzählte er von Walsh, darauf Bartsch: „Ich habe bei Professor Walsh die potenzerhaltende Operationsmethode gesehen und in Innsbruck übernommen.“ Neun Jahre später gilt Girardi als von seinem Prostatakarzinom geheilt, nach eigener Angabe hat er weder Kontinenz- noch Potenzprobleme. Seit zwei Jahren ist er Sprecher einer Selbsthilfegruppe, die für die Innsbrucker Urologie die Werbetrommel rührt. Tatsächlich verzeichnet Tirol, wo seit mehr als 20 Jahren ein landesweites, von der Kasse bezahltes Vorsorgeprogramm läuft, österreichweit die niedrigste Sterberate beim Prostatakarzinom. Aber nach wie vor ist dieses Leiden die häufigste Krebsart des Mannes. In Österreich erkranken jährlich etwa 5000 Männer neu an dem Drüsenleiden, etwa 1000 sterben daran.
Doch die Sterberate ist landesweit fallend. Und das, obwohl der Prostatakrebs ein Altersleiden ist und die Bevölkerung zunehmend älter wird, was eher einen Anstieg bei Häufigkeit und Mortalität vermuten ließe. Mehr Früherkennung und bessere Behandlungsmethoden zeitigen offenbar Erfolge, in Tirol deutlicher als anderswo. Bis zum Jahr 2008 sank dort die Sterberate bei Patienten der Altersgruppe 40 bis 79 Jahre gegenüber dem Vergleichszeitraum 1986–1990 um bis zu 64 Prozent. 93 Prozent der Operierten bleiben kontinent, 80 Prozent der unter 60-Jährigen auch potent. Die anderen haben Probleme. Solche Aussagen und Vergleiche sind inzwischen möglich, weil die Tiroler Klinik auch österreichweit über das umfangreichste Datenmaterial verfügt.
Laut Bartsch ist ein wesentlicher Teil dieses Erfolgs auf den – nach wie vor umstrittenen – PSA-Test zurückzuführen. 1988 begann die Innsbrucker Klinik mit dem Aufbau eines landesweiten Vorsorgesystems zur Früherkennung des Prostatakarzinoms. Anfangs wurde zu Diagnosezwecken nur die klassische rektale Tastuntersuchung und fallweise auch der PSA-Test (Prostata-spezifisches Antigen) durchgeführt, seit 1993 nur noch der PSA-Test, und zwar durchaus im Wissen um dessen Problematik. Denn es gibt keinen PSA-Wert, der eindeutig das Vorhandensein eines Prostatakarzinoms belegt. Es kann einen hohen PSA-Wert ohne und einen niedrigen mit Karzinom geben. Experten gehen davon aus, dass der normale PSA-Wert des gesunden Mannes in jedem Alter unter 1,0 liegen sollte. Da sich aber die Prostata mit zunehmendem Alter auch gutartig vergrößert, steigt der PSA-Wert an. Der Marker kann auch durch eine Prostatitis (Prostataentzündung) oder durch sexuelle oder sportliche Aktivität erhöht sein.
Das macht eine zuverlässige Diagnose so schwierig. Deshalb wurde und wird in Tirol keine Prostatabiopsie nur aufgrund eines einzelnen PSA-Werts vorgenommen. Denn wer so etwas mache, betreibe „ein Geschäft mit der Angst“, kritisiert der Biochemiker Helmut Klocker, Leiter des urologischen Labors am Innsbrucker Prostatazentrum. Für die Innsbrucker Experten ist stattdessen die Entwicklung des PSA-Werts ausschlaggebend. Wenn ein Patient beispielsweise einen PSA-Wert von 0,67 hat und im Jahr darauf 1,80, schauen die Innsbrucker Urologen genauer hin. Hat der Patient in einem Jahr einen PSA-Wert von 3,0 und im nächsten einen von 4,3, dann ist das sehr wahrscheinlich ein Indiz für einen bösartigen Tumor. Die meisten Experten des Fachs raten heute nicht mehr nur aufgrund eines einzelnen PSA-Tests zur Biopsie, sondern checken die Prostata zusätzlich mittels Ultraschall und Tastuntersuchung. Sollten all diese Untersuchungen den Verdacht auf ein bösartiges Geschehen untermauern, dann wird zusätzlich biopsiert.
Alarmzeichen
Lange Zeit war das anders. Viele Urologen gingen von so genannten Cut-off-Werten aus. PSA-Testergebnisse zwischen 4 und 10 galten als normal, bis sich herausstellte, dass es auch bei einem PSA-Wert von 2 schon einen Tumor geben kann. Dem Linzer Urologen Peter Prammer, Oberarzt am Krankenhaus der Elisabethinen, ist auch schon ein ausgeprägtes Prostatakarzinom bei einem PSA-Wert von 0,80 untergekommen. Daher gingen, ausgehend von Innsbruck, immer mehr Prostatazentren dazu über, auch PSA-Werte ab 2,0 als mögliches Alarmzeichen zu nehmen. Aber auch das ist nicht unproblematisch. Denn ein niedrigerer PSA-Wert als Maßstab führt zwangsläufig zu mehr überdiagnostizierten Patienten.
Bartsch: „Das heißt, ich komme zu einer positiven Diagnose, aber das sind Patienten, die vielleicht gar keine Therapie brauchen, weil sie zwar ein Prostatakarzinom haben, aber dieses nicht fähig ist, die Prostatakapsel zu durchbrechen, Lymphknoten zu befallen und Knochenmetastasen zu bilden.“ Das große Problem der Mediziner dabei ist, dass es bis dato keinen Marker gibt, der darauf schließen lässt, ob ein bestimmtes Karzinom harmlos oder lebensbedrohlich ist. Daher wird, um die Lebensgefahr auszuschließen, zumeist die Prostata radikal entfernt, was den Betroffenen häufig einen Teil ihrer Lebensqualität raubt. Laut internationalen Untersuchungen treten bei einem Drittel der radikal Operierten Inkontinenz und in bis zu 80 Prozent der Fälle auch Potenzstörungen auf. Umgekehrt wissen die Experten, dass das Prostatakarzinom oft so langsam und so symptomlos wächst, dass viele Männer mit und nicht an ihrem Leiden sterben, wie eine Reihe von Studien belegt.
Eine schwedische Forschergruppe des Örebro Medical Center Hospitals hatte 15 Jahre lang 642 Prostatakrebspatienten im Durchschnittsalter von 72 Jahren beobachtet. Eine Gruppe der Erkrankten wurde sofort nach Diagnose behandelt, die andere nur überwacht. Überraschendes Ergebnis: Am Ende der Studie waren 84 Prozent der Probanden verstorben, aber in nur 37 Prozent der Fälle war das Prostataleiden die Todesursache. Besonders verblüffend: Patienten mit einem lokal auf die Prostata begrenzten Tumor hatten ohne jegliche Therapie den gesamten Zeitraum von 15 Jahren hindurch dieselbe Prognose wie jene, die gleich nach der Diagnose behandelt wurden.
Aber eine Garantie für die nicht vorhandene Lebensbedrohung gibt es nicht. Die Innsbrucker Urologen behelfen sich mit einem so genannten Nomogramm. Das heißt, sie schaffen sich ein artifizielles Gehirn in Form verschiedener Parameter, sodass sie dem Patienten aufgrund von PSA-Test und Tast- sowie Ultraschallbefund sagen können: „Sie haben mit einer Wahrscheinlichkeit von soundsoviel Prozent ein Prostatakarzinom.“ Dann folgt eine umfassende Aufklärung des Patienten über die Problematik des PSA-Tests und anderer Befunde sowie über die Verlässlichkeit einer allfälligen Biopsie. Ist der Tumor noch klein, dann kann die unter Lokalanästhesie in den Mastdarm eingeführte Biopsienadel auch danebentreffen und trotz Tumors einen negativen Befund ergeben. Die Innsbrucker Urologen stellen es daher dem mündigen Patienten anheim, ob er eine Biopsie haben will oder nicht.
„Wir müssen von den vielen Biopsien wegkommen und für Patienten mit kleinen Tumoren eine organerhaltende Therapie entwickeln“, sagt Bartsch. Derzeit bleibt im Fall eines positiven Biopsiebefunds zumeist nur die Operation. Die Kunst des urologischen Chirurgen ist es, dabei die Potenznerven zu erhalten. An manchen Zentren werden kleine Tumoren mittels hochenergetischen, fokussierten Ultraschalls operiert. Dabei vermisst eine in den Mastdarm eingeführte Sonde das Karzinom und zerstört es nach und nach mittels computergesteuerten, gebündelten Ultraschalls. Der Linzer Urologe Peter Prammer, der die Technik seit zwei Jahren bei etwa zehn Prozent der Patienten anwendet, zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden: „Bei richtiger Auswahl der Patienten erzielen wir gute Ergebnisse.“ Für die Ultraschalltherapie kommen laut Prammer nur Patienten infrage, bei denen das Karzinom mit einem Höchstvolumen von 25 Millilitern noch relativ klein ist.
Sichere Methode
Die radikale Prostataentfernung bei Patienten bis zum 75. Lebensjahr bezeichnet Prammer nach wie vor als die sicherste Methode. In den meisten Fällen wird der Prostatatumor bauchseitig, über den geöffneten Damm oder per Roboterchirurgie operiert. Als zweitsicherste Methode bezeichnet Prammer die Bestrahlung des bösartigen Tumors von innen oder von außen. Für die Innenbestrahlung werden so genannte radioaktive „seeds“ in den Tumor eingepflanzt, welche die bösartigen Zellen durch die von ihnen ausgesandten Strahlen zerstören. Da die Tumorzellen auf die Strahlen sensibler reagieren als gesunde Zellen, werden nur sie von den tödlichen Strahlen erfasst, nicht aber die gutartigen Zellen. Häufiger wird allerdings von außen bestrahlt, wobei wiederum die Wirkung auf die bösartigen Zellen viel stärker ist als auf die gesunden.
Bei aller Problematik rechnen Experten damit, dass die Sterberaten weiter sinken werden. „Wir in Tirol haben mit dem PSA-Test früher angefangen, daher haben wir schon früher sinkende Sterberaten gesehen. Das übrige Österreich folgt mit einer gewissen Verzögerung nach“, sagt Bartsch.
Hoffnungsschimmer
Medikamente
An der Wiener Medizinuniversität wird ein neuer Wirkstoff gegen metastasierten Prostatakrebs getestet.
Bildet ein Prostatakarzinom bereits Metastasen in den Knochen, bleibt zumeist nur eine Hormonbehandlung. 90 Prozent der Patienten sprechen auf diese Therapie zumindest eine Zeit lang gut an. Dann bilden sich bei jenen Patienten, die diesen Zustand noch erleben, hormonresistente Zellen, sodass die Mediziner von einem „hormonrefraktären Prostatakarzinom“ sprechen. Im Durchschnitt erreichen Betroffene diesen Zustand nach etwa zweieinhalb Jahren, manche früher, manche aber auch viel später. Im Bereich der Hormontherapie wurden in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Verabreichte man früher Östrogene, so wird heute entweder eine medikamentöse Kastration vorgenommen (mithilfe eines Wirkstoffs, der in die Tätigkeit der Hypophyse im Gehirn eingreift), oder die Ärzte geben ein Medikament, das die Hormonproduktion direkt blokiert.
Wichtigster Wachstumsfaktor für den Krebs ist das Testosteron. „Schaltet man die Testosteronproduktion ab, geht der Tumor zurück“, erklärt Michael Krainer, internistischer Onkologe am Wiener AKH. Wenn das Karzinom aber hormonrefraktär, also therapieresistent wird, dann ist die derzeitige Medizin mit ihrem Latein am Ende. Die Patienten sind todgeweiht – für jeden Kliniker ein unbefriedigender Zustand. Lange Zeit gingen die Ärzte davon aus, dass ein hormonrefraktärer Prostatakrebs nicht auf eine Chemotherapie anspricht.
Eine kleine Forschungsgruppe um Krainer gab sich damit nicht zufrieden. Im Jahr 2004 veröffentlichten die Mediziner im „Journal of Urology“ eine kleine Studie zum Thema Chemotherapie beim hormonrefraktären Prostatakarzinom. Ergebnis: Mithilfe des Chemotherapeutikums Docetaxel lässt sich eine Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität um einige Monate erzielen. Zwei größere, an je etwa 1000 Patienten in den USA und in Europe durchgeführte Studien konnten dieses Ergebnis bestätigen. „Das war ein Signal, dass in dem Bereich etwas weitergehen könnte“, sagt Krainer. Als Folge davon sprangen weitere Forschergruppen und schließlich auch die Pharmaindustrie auf den Zug auf. Während es für klinische Forschung in den USA Mittel vom National Cancer Institute (NCI) gibt, sind österreichische Kliniker auf Unterstützung durch die Industrie angewiesen.
Derzeit laufen an der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin I gleich drei klinische Studien mit neuen Behandlungsansätzen für das hormonrefraktäre Prostatakarzinom: eine innovative Immuntherapie, ein neuartiger Weg der Hormontherapie und eine Ergänzung der aktuellen Standardtherapie mithilfe eines so genannten Signaltransduktionsblockers. Der wahrscheinlich meistversprechende Ansatz ist die innovative Hormontherapie, die Michael Krainer und seine Gruppe im Rahmen einer weltweit in 150 Zentren durchgeführten Phase-III-Studie testen. Das Therapiekonzept stammt von einem „genialen Unternehmer und Wissenschaftler“ (Krainer) namens David Hung und dem von ihm gegründeten Forschungsunternehmen Medivation in San Francisco, einem Spinoff der University of California in Los Angeles (UCLA). Hung und Kollegen entwickelten ein neues Antihormon mit der Bezeichung „MDV 3100“. Hung gegenüber Profil: „Die bisherigen Studien mit diesem Wirkstoff haben eine deutliche Verringerung der Krebszellen und signifikantes Benefits bei austherapierten Patienten gezeigt.“ Aber bis ein solcher Wirkstoff die behördliche Zulassung erhält, können noch zwei, drei Jahre vergehen.